Ein Freund von mir erzählte mir, dass er sich die TikTok-Streams seiner Schüler angeschaut hatte, und da war alles voll mit der AfD. Das war leider kein Einzelfall. Die AfD hat eine wesentlich höhere Reichweite auf sozialen Medien als andere Parteien. Ist es jetzt so, dass die anderen Parteien einfach ein schlechtes Online-Marketing machen, oder steckt etwas anderes dahinter?
Der Große Bruder: Algorithmus
Wer entscheidet, was in einer Social-Media-App angezeigt wird? Egal ob YouTube, Facebook, Instagram oder TikTok, dem Nutzer wird zuerst der sogenannte Feed angeboten. Was in diesen Feed kommt, wird per Algorithmus, also automatisch, für jeden Nutzer einzeln und in Echtzeit berechnet. Wischt der Nutzer also mit seinem Daumen nach unten, wählt der Algorithmus aus allen verfügbaren Posts die besten für diesen einen Nutzer aus. Das kann ein Katzenvideo, Fake News oder eben Parteiwerbung sein.
Es ist wichtig zu verstehen: Der Algorithmus ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist von Menschen programmiert und spiegelt die Ziele dieser Menschen wider. Der Algorithmus versucht zu optimieren, welche Ziele ihm einprogrammiert werden.
Dieses Ziel kann wirtschaftlicher Natur sein, also z. B. die Verweildauer der Nutzer zu erhöhen, um ihnen mehr Werbung anzuzeigen. Es könnte auch das altruistische Ziele sein, die Menschen glücklicher und die Welt besser zu machen. Haha, war nur ein Spaß; fragen Sie mal Mark Zuckerberg bei der nächsten Pressekonferenz danach.
Trotzdem, der Algorithmus kann auch dazu eingesetzt werden, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen. So werden chinesischen Kindern, die eine eigene Version von TikTok haben, auch lehrreiche Inhalte angezeigt und die Nutzungsdauer begrenzt. Den Erwachsenen werden in China die Inhalte der Kommunistischen Partei angezeigt – andere Ansichten werden (natürlich) zensiert.
PsyOps: Psychologische Kriegsführung
Wenn ein Unternehmen wie z. B. Meta (Instagram/Facebook/WhatsApp) versucht, Menschen nach seinem Produkt süchtig zu machen, um ihnen Werbung zu verkaufen, ist das schlimm genug. Es geht hier allerdings um eine Gefahr für unsere nationale Sicherheit und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es relevant, dass TikTok ein chinesisches Unternehmen ist, und eben kein beliebiges Wirtschaftsunternehmen.
Die Frage, die sich stellt, lautet: Könnte eine Plattform wie TikTok für psychologische Kriegsführung eingesetzt werden? Dabei geht es darum, durch (Des-)Informationskampagnen die andere Seite so zu beeinflussen, dass es den eigenen Zielen nützt. Das ist gar nicht zu abwegig. Russland betreibt dafür eigene Troll-Farmen, um Fake News auf Social-Media-Plattformen im Westen zu platzieren. Selbst die USA haben so etwas in China bereits versucht. Warum nicht auch China in Deutschland?
Cui bono: Wem nützt es?
Warum sollten sich autoritäre Staaten wie Russland oder China überhaupt die Mühe machen? Autokraten haben ein – nennen wir es mal – Legitimationsproblem. In einer Demokratie sind die Politiker zwar alle irgendwie doof, aber wir können sie wenigstens nach vier Jahren austauschen. Sie haben zumindest eine Legitimation zum Regieren. Autokraten müssen sich ihre Legitimation selber schaffen. Entweder durch Scheinwahlen, aber im Wesentlichen durch ein Narrativ: Ihr habt zwar nicht alle Freiheiten, aber mit mir als Führer geht es Euch besser.
Dieses Narrativ bringt natürlich ein ganz eigenes Problem mit sich: Wir im Westen haben alle Freiheiten und es geht uns besser. Deswegen können wir mit einem autokratischen Staat als Nachbarn sehr gut leben, der autokratische Staat hingegen nicht. Er muss in einem westlichen, demokratischen Nachbarn ein Problem sehen.
Und so ist es in dem Interesse eines Autokraten, die Probleme eines demokratischen Kontrahenten hervorzuheben oder vielleicht sogar zu verstärken. Hier und da Sand ins Getriebe der gut geölten politischen Maschine streuen. Instabilität erzeugen, wo immer nur möglich. Und Instabilität haben wir gerade wirklich genug. Und was wäre bessere Propaganda, als den eigenen Leuten zu erzählen: Guckt mal, in Deutschland sind wieder die Nazis an der Macht?
Die Partei, die Partei, die hat immer recht
Die Kommunistische Partei Chinas nimmt wesentlich stärkeren Einfluss auf die Wirtschaft als Regierungen im Westen. Nicht nur durch aufgepäppelte Staatskonzerne und erhebliche Subventionen für bevorzugte Sektoren.
Auch auf private Firmen nimmt die Partei direkten Einfluss. So existieren in jedem Unternehmen Parteikomitees, ohne die wichtige Entscheidungen nicht getroffen werden können. Wenn ein Gründer es sich mit der Partei verscherzt, kann es unangenehm werden.
Jack Ma, Gründer von Alibaba, hatte sich kritisch gegenüber dem chinesischen Bankensystem geäußert, das von Staatsbanken dominiert wird. Er verschwand drei Monate von der Bildfläche. Niemand weiß, was in den drei Monaten passiert ist. Jedoch gab er nach seiner Rückkehr einen Großteil seiner Kontrolle über sein Imperium auf. Der Börsengang seiners Finanz-Start-ups, das die Banken herausfordern wollte, wurde abgesagt.
Zhang Yiming, der Gründer von ByteDance, dem TikTok gehört, musste nicht erst verschwinden, um sich kleinlaut dafür zu entschuldigen, dass seine App nicht mit „sozialistischen Kernwerten“ vereinbar sei.
Ist TikTok schuldig?
Wollten wir nun Anklage erheben gegen TikTok, hätten wir einiges vorzuweisen. Es gibt ein Motiv; die Destabilisierung des Westens. Die Art und Weise, wie politische Posts verbreitet werden, liefert klare Indizien. Und es existiert grundsätzlich die Fähigkeit der chinesischen Politik, ihre Konzerne zu steuern. Doch ist das genug für eine Verurteilung? Und unter welchem Paragraphen?
Vermutlich ist es zu früh, um einen Schuldspruch zu erlassen. Jedoch muss eine wehrhafte Demokratie die Gefahren, die von durch ausländische Akteure gesteuerten Medien ausgehen, ernst nehmen. Beobachten und wenn es geboten ist, muss gehandelt werden.
Können wir TikTok aufhalten?
Die gute Nachricht ist, Deutschland und Europa haben auf vielen Ebenen die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und sich nicht nur gegen feindliche Propaganda und Beeinflussung zu wehren, sondern auch Social Media insgesamt für eine positive gesellschaftliche Wirkung zu nutzen.
Wichtigster Hebel: die Wirtschaft. Social-Media-Plattformen verdienen ihr Geld mit Werbung. Und dafür müssen sie in den Ländern, in denen sie aktiv sind, Unternehmen finden, die für viel, viel Geld auf ihren Plattformen Werbung schalten wollen – es geht hier um mehrere Milliarden Euro im Jahr. Um diese Geschäfte zu tätigen, sind sie gezwungen, Repräsentanzen in den Zielländern zu unterhalten. Sie müssen sich also den örtlichen Gesetzen unterwerfen, wenn sie weiterhin Geld verdienen wollen.
Brauchen wir eine Lex-TikTok?
Wenn China über TikTok aktiv versucht, unsere Wahlen zu beeinflussen, dann ist der Ofen aus. Dann dürfen wir uns auch nicht zu schade sein, TikTok abzuschalten oder zum Verkauf zu zwingen. Doch diese Anklage muss wasserdicht sein. Ansonsten zieht sie mehr Probleme nach sich, als sie löst. Die USA machen es gerade vor, wie man es vielleicht besser nicht macht. Eine Lex-TikTok wäre also eher kontraproduktiv. Es gibt allerdings weitere Möglichkeiten, auf Social-Media-Plattformen Einfluss zu nehmen.
Social-Media-Plattformen sind das Hauptinformationsmittel insbesondere vieler junger Menschen. Daher haben sie eine größere gesellschaftliche Verantwortung als nur die Gewinnmaximierung. Als erster Schritt sollte auf eine Selbstverpflichtung der Social-Media-Plattformen hingearbeitet werden. Welche Ziele genau verfolgt werden, bedarf einer Diskussion. Ausgeglichene politische Information, psychische Gesundheit oder lehrreiche Inhalte wären Themen, die die Plattformen aufgreifen könnten, ohne ihre Wirtschaftskraft stark zu schmälern.
Regulierung von Fernsehen und Radio als Vorbild
Die Option einer stärkeren Regulierung der Plattformen und ihrer Inhalte sollte dadurch aber nicht vom Tisch genommen werden. Nicht nur dient die Androhung derselben als Druckmittel für eine stärkere Selbstverpflichtung. Auch wird sich durch Selbstverpflichtung nicht jede gesellschaftliche Zielsetzung durchsetzen.
In Radio und Fernsehen ist z. B. gesetzlich vorgeschrieben, dass politische Parteien zu gewissen Zeiten gleichberechtigten Zugang zur Sendezeit bekommen. Zudem haben Fernsehsender in Deutschland eine Informationspflicht und einen Bildungsauftrag. Ja, sogar RTL – wenn auch einen nicht ganz so strikten wie die öffentlich-rechtlichen.
Die Regulierung von Radio und Fernsehen ist relativ natürlich aus der Entstehungsgeschichte entstanden, da dies von Anfang an ein eher staatliches Projekt war. Allerdings sollte das nicht bedeuten, dass sich Internetkonzerne einer solchen Regulierung entziehen sollten, weil sie „zufällig“ aus dem Web entstanden sind.
Fazit – Holzauge bleib wachsam
Die Gefahren, die von sozialen Medien ausgehen, insbesondere von jenen, die von ausländischen Akteuren kontrolliert werden, sind groß. Sie kontrollieren die Informations- und Medienwelt vieler Millionen Menschen und Wähler. Häufig für mehrere Stunden pro Tag. Eine wehrhafte Demokratie darf hier nicht untätig zuschauen.
Erstens muss diese Gefahr genau beobachtet und untersucht werden. Hier sind herkömmliche Forschungseinrichtungen, aber auch die Geheimdienste gefragt.
Zweitens muss auf eine Selbstverpflichtung der Betreiber hingearbeitet werden, damit sie zum Wohle der Gesellschaft handeln und nicht nur zum Wohle der Aktionäre.
Drittens muss ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, um die Plattformen dazu zu zwingen, zu wohlwollenden Akteuren in der Medienlandschaft zu werden. Außerdem sollte es Sanktionsmöglichkeiten geben, wenn dies nicht gelingt, bis hin zum Verbot unter klar definierten Umständen.
Wir dürfen die Wohnzimmer unserer Gesellschaft nicht kampflos feindlich gesinnten Akteuren überlassen.
Quellen
https://en.wikipedia.org/wiki/Psychological_warfare
https://www.economist.com/china/2024/03/21/america-is-concerned-about-social-media-china-is-too
https://www.economist.com/the-economist-explains/2024/05/02/the-vocabulary-of-disinformation
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/afd-tiktok-erfolg-strategie-jugendliche-100.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Cui_bono
https://digital.abcaudio.com/news/tiktok-different-china-heres-what-know
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/237014/bildungsauftrag-und-informationspflicht-der-medien/